Aus dem Text.
4.2.1 POLARITÄT UND GEGENSATZ.
Wir haben uns angewöhnt, das Leben durch ein Vergrößerungsglas zu verfolgen, um Stoffe zu entdecken, die für uns andernfalls unsichtbar blieben. Wie anders, wie viel umfassender wäre unser Begriff des Lebens, wenn es uns möglich wäre, es durch ein Verkleinerungsglas zu betrachten. Dann könnten wir alles überschauen, was andernfalls dem bloßen Auge verborgen bleibt, und statt materielle Verbindungen zu erkennen, wie das jetzt der Fall ist, würde der Zusammenhang der Phänomene unter einander der Gegenstand unserer Studien werden. Louis Bolk.
Jetzt wollen wir uns einmal den Phänomenen der menschlichen Befruchtung auf Goethes oder Bolks Art nähern, indem wir die Phänomene so nehmen, wie sie sind, und die menschliche Samenzelle und Eizelle in dem Zusammenhang betrachten, in dem sie erscheinen. Einerseits ist das der Zusammenhang der Anatomie und der Physiologie der zwei Geschlechtszellen selbst und der dazugehörigen Geschlechtsorgane. Andererseits ist es der Zusammenhang des präkonzeptionellen Anziehungskomplexes. Dieser verweist auf den biologischen Komplex, der unter normalen Umständen durch beide Gameten gemeinsam gebildet wird; er dauert eine bestimmte Zeitlang an, bevor die eigentliche Verschmelzung der beiden Zellen (d.h. die sogenannte Penetration der Samenzelle) ermöglicht wird und stattfindet.
Nur durch die vergleichende Betrachtung kann man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Eizelle sehr groß und die Samenzelle sehr klein sind, eigentlich ‚so groß wie möglich und so klein wie möglich‘. Eine quantitative Beschreibung in einem verhältnismäßigen Maßstab von Ziffern und Gewichten (Durchmesser des Samenzellenkopfes 2-3 μm; Schwanz der Samenzelle 60 μm; Durchmesser der Eizelle ung. 200μm usw.) kann dem qualitativen Unterschied zwischen groß und klein nicht gerecht werden. Eine dynamische Annäherung zur Eizelle und Samenzelle fügt aber daran eine extra Dimension hinzu. Wenn man in Betracht zieht, wie groß und wie klein die beiden Zellen wirklich sind, und vor allem, auf welche Art sie groß oder klein werden (d.h. groß und klein sein als Gebärde, als ‚Verhalten‘) offenbart sich sofort eine enorme Polarität. Was die menschliche Biologie anbetrifft, ist die Eizelle gigantisch. Mit einem Durchmesser von 0.2 mm und einem Zytoplasmavolumen von 0.004 mg ist sie zweifellos die voluminöseste Zytoplasmakugel, die ein Mensch produzieren kann. Natürlich können Neuronen beeindruckende Längen (bis auf viele tausende Male die Durchschnittsgröße einer Zelle, die ungefähr 10 μm beträgt) erreichen, aber was das Volumen betrifft, übertrifft die Eizelle sie alle. Dieses drückt sich in der dynamischen Weise, in der sie reift, aus. Die Eizelle reift in einem Prozess von sowohl Zunahme wie auch Aufrechterhaltung an Volumen. Sie macht sich sozusagen „so groß wie möglich“ und häuft dabei so viel Zytoplasma an, dass sie ihre Körpermasse kaum noch handhaben kann und die pflegende Umgebung eines Eierstocks benötigt, um am Leben bleiben zu können. Das verhältnismäßig große Volumen an Zytoplasma, das die ursprüngliche Geschlechtszelle während der Embryonalphase kennzeichnet, bleibt zumindest erhalten. Während der ersten Reduktionsteilung, die die Eizelle im Augenblick des Eisprungs vollenden soll, wird der Eindruck, dass die ursprüngliche Oozyte danach strebt, das Zytoplasmavolumen beizubehalten, befestigt, und zwar durch das Phänomen, dass die ursprüngliche Oozyte sich in zwei Schwesterzellen teilt, die, was ihr Volumen betrifft, in ganz ungleichem Verhältnis zueinander stehen. Eine dieser „Zellen“ (das Polkörperchen) enthält das erforderliche DNS-Substrat, die andere (die sekundäre Oozyte) behält das Zytoplasma. Ein zweites typisch phänomenologisches Argument, um die Eizelle als sehr groß’ anzudeuten, liegt in dem Phänomen, dass im menschlichen Körper nur die Eizelle so groß wird, dass man sie mit dem bloßen Auge sehen kann. Die ganze Welt der Zellularität spielt sich für uns unter der Sichtbarkeitsschwelle ab, nur die Eizelle wird mit ihrer Sandkorngröße (etwa 0,2 mm) sichtbar. Gross sein als Qualität, als Verhalten, als Gebärde. Auf die gleiche Art und Weise betrachtet ist die Samenzelle ’so klein wie möglich‘: fast alles, was mit Zytoplasma und Zellwasser zu tun hat, wird ausgeschieden, nur der Kern und einige Zellorganellen (Mitochondrien im Halsbereich, Fibrillen im Schwanz) bleiben übrig. Die Samenzelle, die dies in der letzten Phase ihrer Reifung nicht schafft, kann nicht gut funktionieren und wird in z.B. ihrer Beweglichkeit schwer behindert.(………)
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