Der Inkarnierende Embryo – Menschliche embryonale Entwicklung in einer phänomenologischen Perspektive. In: Morphodynamik in der Osteopathie, Torsten Liem (ed), 2006, Hippokrates Verlag. Kapitel 9, geschrieben von Jaap van der Wal, MD Phd und G.H, van der Bie, MD.
Einführung
Aus biologischer Sicht gehört zur pränatalen Existenz auch die Phase des embryonalen Lebens, bei der es um die Organo- und Somatogenese geht. Der Unterschied zwischen Fötus und Embryo besteht darin, dass bei Ersterem der Körperbau im Grunde abgeschlossen ist, während sich beim Embryo die Organisation des Körperbaus noch in der Entwicklung befindet. Der Wechsel vom Embryo zum Fötus vollzieht sich etwa in der 10. Woche nach der Empfängnis. In den Begriffen der menschlichen Biologie und Psychologie funktioniert der Embryo auf eine grundsätzlich andere Weise als das Kind oder der erwachsene Mensch. Die betrifft insbesondere die Funktionsweise des Gehirns und der Sinne vor der Geburt. Heute ist beinahe jeder Mensch davon überzeugt, dass sich das Zentrum des menschlichen Geistes und des Bewusstseins, der Psyche und der Seele im Nervensystem und besonders im Gehirn befindet. Für die meisten Menschen gilt es als erwiesen, dass der menschliche Geist und das Bewusstsein vom Gehirn erzeugt werden. In typisch cartesianischer Denkweise werden das Gehirn und die Funktionen des ZNS als Ursprung, die Ursache des menschlichen Verhaltens und der Psyche angesehen. Mit dieser Philosophie werden Psyche, Seele, Verstand und Geist zu rein physiologischen Prozessen. Es hat sich die Sicht durchgesetzt, dass innerhalb der Naturwissenschaften Seele oder Geist (als Teile der cartesianischen geistigen Res cogitans) nichts anders als Erzeugnisse des Gehirns sind und somit zum Reich der materiellen Res extensa gehören. Neuere Literatur zur pränatalen Psychologie und zur embryonalen Existenz stellen den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist auf den Prüfstand. Wie kann ein Embryo über Geist oder Seele verfügen, wenn er noch nicht einmal die Form eines aktiv funktionierenden Gehirns oder Nervensystems herausgebildet hat? Für die meisten Menschen führt außerdem der Embryo eine Art von Halbexistenz, eine Phase, in der der Mensch noch nicht vollständig ist. Wie im Falle des Hirntodes wird der Embryo als unbeseelt angesehen, was sehr oft in der laufenden moralischen und ethischen Debatte mit nicht menschlich oder noch nicht menschlich gleichgesetzt wird.
Interessiert geworden? Weiterlesen? Öffnen Sie das Link hierunten.